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Wie wird die Adipositas-Therapie nachhaltig?

Zur Rose Infos 09. April 2024

Dr. Egermann Dr. Egermann

Dr. med. Ulrich Egermann, Mitglied des Adipositas-Netzwerks Winterthur. Er arbeitet seit rund fünfzehn Jahren als Adipositas-Spezialist.

«Ich staune immer noch über die unterschiedlichen Beweggründe, weshalb jemand Gewicht abnehmen und den Lebensstil verändern möchte. Deshalb bereitet es mir weiterhin grosse Freude, meine Patientinnen und Patienten auf ihrem Weg in ein gesünderes Leben zu begleiten.»


Die chronische Krankheit Adipositas braucht individuelle Massnahmen, Geduld und eine fachlich kompetente Unterstützung eines interdisziplinären Behandlungsteams. Im Interview erklärt der Adipositas-Spezialist Dr. med. Ulrich Egermann, welche Therapie-Formen wann sinnvoll sind, warum die Spritzen-Therapie eine Behandlungslücke schliesst – und was Betroffene im Alltag für ein besseres Körpergefühl tun können.

Herr Dr. Egermann, wohin kann sich eine Person wenden, die aufgrund von Adipositas oder starkem Übergewicht Hilfe in Anspruch nehmen möchte?

Zuerst einmal sollte die Person selber versuchen, mit veränderten Gewohnheiten, mehr Bewegung und gesünderer Ernährung Gewicht abzunehmen – etwa ein halbes oder ein Jahr lang. Wenn sie damit an ihre Grenzen stösst, gesundheitliche Probleme bekommt oder ihr Leben nicht mehr so bewältigen kann, wie sie es möchte, dann sollte sich diese Person Hilfe holen. Als erstes würde ich das Gespräch mit der Hausärztin oder dem Hausarzt suchen. Diese/r kann dann selbst mit der Person zu arbeiten beginnen oder sie an ein spezialisiertes Adipositas-Zentrum überweisen.
 

Kann sich jemand auch von Anfang an Hilfe holen, weil die Person einfach nicht weiss, wie sie ihr Leben gesünder gestalten soll?

Möchte sich jemand Unterstützung holen, hat diese Person ja verstanden, alleine nicht mehr weiterzukommen. Und das ist doch schon ein erster Schritt.

Meist gibt es einen Schlüsselmoment, der jemanden zum Handeln bringt. Er schaut sich zum Beispiel alte Urlaubsfotos vom letzten Jahr an und stellt fest, dass er die Hose auf dem Foto nie mehr angezogen hat, weil sie inzwischen einfach viel zu klein geworden ist. Und realisiert dann: Irgendetwas stimmt nicht. Häufig gibt es auch ein Drängen von Angehörigen, etwas zu unternehmen. Für mich ist jedoch wichtig, dass Betroffene aus eigener Motivation bei mir sitzen. Nicht, weil sie jemandem eine Freude machen wollen. Nicht, weil irgendeine Influencerin auf Tiktok Dünnsein zelebriert; nicht, weil irgendein Prominenter mit dem vermeintlich einfachen Weg der Spritze prahlt. Das höre ich überhaupt nicht gern. In einem solchen Fall würde ich dieser Person sagen, dass sie bei mir an der falschen Adresse sei.

Mit welchen Erwartungen kommen adipöse Personen zu Ihnen?

Ich habe das Glück, dass Betroffene freiwillig zu mir kommen. Sie wissen, dass sie nicht weitermachen können wie bisher. Ich kann sie also wirklich genau dort abholen, wo sie konkret etwas stört. Was als störend empfunden wird, ist ganz unterschiedlich. Manche stören sich gar nicht primär am Gewicht, sondern sorgen sich wegen Folge-Erkrankungen. Bei gewissen jungen Frauen etwa geht es darum, dass sie nicht schwanger werden. Mir hat beispielsweise gerade eine Patientin geschrieben, dass sie Zwillinge bekommen hat. Sie kam damals zu mir, weil ihre Fruchtbarkeit wegen der Adipositas so eingeschränkt war. Für sie ist der Gesundheitsgewinn da – völlig unabhängig von der Zahl verlorener Kilos –, denn sie hat mit der Gewichtsabnahme etwas für ihre Fruchtbarkeit getan. Das fand ich bemerkenswert.


"Es geht nicht um die Kilozahl, sondern darum, ob Betroffene Leben, Familie, Arbeit und Freizeit wieder so gestalten können, wie sie das gerne möchten."

Sind Körpergewicht und Adipositas-Grad die entscheidenden Faktoren bei der Wahl der passenden Therapie-Form?

Die Zahl auf der Waage allein nützt nicht viel, wenn es um die Wahl der passenden Therapie geht. Ich kann nicht nur anhand von Body-Mass-Index und Adipositas-Grad definieren, welche medizinischen Massnahmen zielführend sind. Darum verzichte ich anfangs in der Regel auch darauf, meine Patientinnen und Patienten auf die Waage zu zwingen.

Was halten Sie stattdessen für sinnvoller?

Ich messe am Anfang lieber den Taillen-Umfang. Denn wenn eine Person vor allem gefährliches Bauch-Fett hat, ist ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht. Dadurch habe ich in der Therapie einen ganz anderen Druck, als wenn es sich um peripheres Fett-Gewebe handelt mit dicken Beinen oder einem Lipödem. Dieses kann natürlich optisch stören und das Selbstwertgefühl negativ beeinflussen, aber es ist nicht so riskant wie das Bauch-Fett. Indem ich den Taillen-Umfang messe, definiere ich das medizinische Risiko.

Bauchfett

Medizinisches Risiko wird also höher gewichtet als der Leidensdruck einer Person?

Eine Patientin oder ein Patient kann auch sehr leiden, ohne Begleit-Erkrankungen oder ein hohes Risiko für gesundheitliche Folgen zu haben. Leidensdruck ist absolut individuell. Aber meine medizinische Behandlung richtet sich vor allem danach, gesundheitliche Probleme und Folgen reduzieren zu können.
 

"Der Schweregrad der mit Adipositas assoziierten Begleit-Erkrankungen 
gibt den Behandlungsweg vor."
 

Welche Rolle spielt der Erkrankungsschweregrad bei der Therapie-Entscheidung?

Die Bestimmung des Erkrankungsschweregrads ist wichtig, um einen individuellen Behandlungsplan zu entwickeln, der auf die Bedürfnisse und Risiken der betroffenen Person zugeschnitten ist. Wenn zum Beispiel bereits Begleit-Erkrankungen wie etwa Schlafapnoe, Bluthochdruck oder Diabetes Typ 2 vorhanden sind, besteht ein viel grösserer Druck, Gewicht zu reduzieren. Es gibt auch Personen mit viel Fett-Gewebe, die keinerlei körperliche Erkrankungen haben, obwohl sie jahrelang genau darauf medizinisch kontrolliert wurden. Bei solchen Personen besteht kein Zwang, unbedingt Gewicht abzunehmen – ausser die Betroffenen leiden unter dem gesellschaftlichen Druck. Es geht hier vielmehr darum aufzuzeigen, für welche Folge-Erkrankungen bei diesem Gewicht ein erhöhtes Risiko besteht. Darum ist es auch bei körperlich gesunden Adipösen sinnvoll, Gewicht zu reduzieren.

Bestimmt der Erkrankungsschweregrad auch, wie viel Gewicht in welcher Zeit abgenommen werden soll?

Bei der Gewichtsabnahme geht es ja vor allem darum, das Risiko für gesundheitliche Schäden zu reduzieren oder bereits bestehende Folge-Erkrankungen abzuschwächen. Wie stark das Gewicht reduziert werden sollte, hängt deshalb natürlich auch vom Erkrankungsschweregrad ab. Zur Entlastung der Gelenke etwa ist es sinnvoll, rund fünf Prozent des ursprünglichen Gewichts abzunehmen. Bei Diabetes Typ 2, Stoffwechsel- oder hormonellen Erkrankungen sollte eine Gewichtsreduktion von rund zehn Prozent, bei Schlafapnoe und psychischen Erkrankungen mit Körperbild-Störungen von fünfzehn bis zwanzig Prozent angestrebt werden. Unabhängig des Schweregrades sollte die Gewichtsabnahme in der Regel nicht radikal, sondern langsam und stetig erfolgen – also ungefähr innerhalb von einem bis eineinhalb Jahren.
 

Welche durchschnittliche Gewichtsabnahme ist denn bei den unterschiedlichen medizinischen Therapien zu erwarten?

Mit einer oralen Medikation in Tabletten-Form lässt sich eine Gewichtsabnahme von maximal zehn Prozent erreichen. Das reduzierte Gewicht lässt sich allerdings häufig nicht so lange auf dem tieferen Niveau halten. Mit den alten Spritzen-Therapien war eine Reduktion von circa sieben bis zehn Prozent realistisch, bei den neueren Spritzen-Therapien hat sich dieser Durchschnittswert verdoppelt auf circa fünfzehn bis zwanzig Prozent. Mit der Schlauchmagen-Operation lässt sich eine Reduktion des Ausgangsgewichts um rund 25 Prozent, mit dem Magen-Bypass um circa 30 bis 35 Prozent erreichen.
 

Wenn aus medizinischen Gründen eine Gewichtsabnahme um 30 Prozent nötig ist, reichen Lebensstil-Änderungen und medikamentöse Therapie also nicht?

Ich bestimme bereits im Erstgespräch mit meinen Patientinnen und Patienten den Ausgangspunkt und das Ziel der therapeutischen Massnahmen. Wenn ich zum Beispiel bei einer stark adipösen Person mit der Spritzen-Therapie das Gewicht von 170 auf 140 Kilogramm senken könnte, würde ja trotz der erfolgreichen Abnahme von 30 Kilo aufgrund des verbleibenden starken Übergewichts noch ein hohes Risiko für gesundheitliche Schäden bestehen. In einem solchen Fall reichen Verhaltensänderungen und medikamentöse Therapie nicht. Da ist es ehrlich und fair zu sagen, dass wir über eine Operation sprechen müssen – natürlich in Abhängigkeit der Laborwerte und anderen Parametern. Trotzdem braucht es aber auch hier veränderte Gewohnheiten und individuell passende Massnahmen für einen gesünderen Lebensstil.

Wie nachhaltig sind denn medikamentöse und chirurgische Behandlungen?

Ob Tabletten, Spritzen-Therapie oder Operationen – bei allen Behandlungsformen besteht nach dem Eintreten einer gewissen Gewichtsstabilität immer wieder die Gefahr einer erneuten Gewichtszunahme, sobald das ursprüngliche Essverhalten wieder auftritt, weil daran nichts verändert wurde. Das Ausmass der erneuten Gewichtszunahme tritt bei operierten Personen allerdings langsamer und weniger ausgeprägt auf als bei medikamentös Behandelten.

"Verhaltensänderungen müssen jetzt beginnen – 
und seien sie noch so klein."
 

Lebensstil-Änderungen braucht es also zwingend bei jeder Therapie-Form?

Bei allen Therapie-Formen spielen unterstützende Massnahmen eine zentrale Rolle. Egal, welche Therapie-Form wir wählen; Verhaltensänderungen wie Steigern der täglichen Bewegung und gesündere Ernährung müssen sofort beginnen – und seien es noch so kleine Schritte.
 

Was fällt Ihren Patientinnen und Patienten bei der Gewichtsabnahme am schwersten?

Ein Grossteil kann ein- oder zweimal recht gut abnehmen mit bestimmten Lebensstiländerungen – und dann ändert sich zum Beispiel auf einmal die Lebenssituation. Weil dadurch die Alltagsbedingungen deutlich anders sind, werden sie wieder hinausgeworfen aus ihren neuen Gewohnheiten und fallen zurück in einen Strudel aus Heisshunger-Attacken und schlechtem Gewissen. In einem solchen Fall überlege ich mit der betroffenen Person, wie sie wieder in eine gute Struktur zurückfinden kann – ohne sich Vorwürfe zu machen. Das ist manchmal echt herausfordernd.

Paar in der Natur
 

Hintergründe zu Ursachen, Abstufungen und Therapie-Möglichkeiten von Adipositas sowie konkrete Tipps für einen gesünderen Alltag finden Sie auf unserer Adipositas-Kompetenzseite.

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Kann man lernen, Heisshunger-Attacken auch ohne Medikamente zu reduzieren?

Ich versuche schon am Anfang der Therapie, mit meinen Patientinnen und Patienten zu unterscheiden, ob es sich bei «Hunger» um echten Hunger, Gewohnheit oder Appetit – also «Gluscht» – handelt. Essen sie, weil der Magen tatsächlich leer ist oder dient es einem Gefühl von Befriedigung, etwas zu essen? Zudem ist es in geselligen Runden oft auch sozial erwünscht, dass die Person mitisst – selbst wenn sie eigentlich nicht möchte.
Mein Antrieb ist es, jeder Person einen Weg zu zeigen, mit dem sie es wirklich schaffen kann, diese Gefühle, denen sie praktisch ausgeliefert ist, tatsächlich in den Griff zu bekommen. Welcher Weg funktioniert, ist sehr individuell. Es gibt zum Beispiel solche, die sehr von einer psychologischen Betreuung profitieren, andere machen grosse Fortschritte mit Hypnose. Das geht alles in die richtige Richtung – es funktioniert einfach nicht alles für jeden.

Warum ist es in der Adipositas-Behandlung so wichtig, individuelle Ziele und Strategien zu verfolgen?

Es gibt nicht DIE EINE Ursache für Adipositas und es gibt nicht DIE EINE goldene Lösung. Man muss Adipositas als Krankheit und auch die betroffene Person mit ihren persönlichen Herausforderungen ernst nehmen. Diese gilt es individuell abzuklären und zu schauen, wie man therapeutisch am besten darauf reagieren kann.
 

"Medikamentöse oder chirurgische Adipositas-Behandlungen 
funktionieren nur in Kombination mit einem gesünderen Lebensstil."
 

Wie entscheiden Sie, welche Behandlung am zielführendsten ist?

Wir orientieren uns in der Medizin an den Zielwerten. Gelenkprobleme mit einer zehnprozentigen Gewichtsabnahme in den Griff zu bekommen, geht durchaus auch ohne medizinische Massnahmen – zum Beispiel mit Physio- und Verhaltenstherapie oder Achtsamkeitsschulung. Die Effekte hiervon sollte man nicht unterschätzen. Wenn hingegen ein Patient aufgrund schwerwiegender Begleit-Erkrankungen 30 bis 35 Prozent seines Körpergewichts abnehmen soll, wird nichts anderes funktionieren als eine Operation. Die Spritzen-Therapie mit GLP1-Medikamenten schliesst die Behandlungslücke zwischen diesen beiden Polen. Sie ist eine Therapie-Option für eine indizierte Gewichtsabnahme von circa 15 bis 20 Prozent. In diesem Bereich gab es jahrelang keine Option. Die GLP1-Medikamente haben hier neue Möglichkeiten eröffnet.

Was bewirken GLP1-Medikamente im menschlichen Körper?

Unser Darm schüttet unmittelbar nach einer Mahlzeit das Hormon GLP1 aus. Die verabreichten Medikamente – GLP1-Analoga genannt – ahmen dieses körpereigene Hormon nach und wirken wie dieses an verschiedenen Stellen im Körper: Sie veranlassen die Betazellen der Bauchspeicheldrüse, Insulin freizusetzen und hemmen gleichzeitig das Hormon Glucagon – den Insulin-Gegenspieler. Dadurch sinkt der Blutzucker, weshalb weniger Heisshunger entsteht. Zu einem reduzierten Hunger-Gefühl und weniger «Gluscht» kommt es auch aufgrund der im Hirn blockierten Rezeptoren, die für Hunger- und Sättigungswahrnehmung zuständig sind. Durch die verlangsamte Magen-Darm-Entleerung wiederum bleibt man länger satt. Mit einem GLP1-Medikament haben wir also ein Hormon-Analogon, das an verschiedenen Rezeptoren in verschiedenen Körperregionen bindet und dort unterschiedliche physiologische Reaktionen hervorruft

Wirkung GLP1-Medikamente

Was ist der Haupteffekt der Spritzen-Therapie?

Die Spritzen-Therapie ist eine medikamentöse Therapie, die adipöse Personen beim langfristigen Verändern ihres Verhaltens unterstützt und hormonelle Verbesserungen erzielen kann. Patientinnen und Patienten schildern mir immer wieder, dass ihr stetiges Gedankenkreisen rund ums Essen auf einmal unterbrochen sei – bereits nach der ersten Spritze und ohne, dass es Änderungen an Gewicht, Laborwerten oder Gewohnheiten gab. Die Personen nehmen eine ganz deutlich verstärkte Sättigung wahr, die nicht mehr so leicht übersehen oder durchbrochen werden kann. Das finde ich faszinierend. Es gibt nun ein Medikament, welches das Bewusstsein für den Körper und dessen Signale so verstärkt, dass Betroffene es wirklich schaffen, den Teufelskreis zu durchbrechen.
 

Wenn also dieses gedankliche Kreisen rund ums Essen wegfällt, besteht überhaupt erst die Möglichkeit, sich wirklich mit seinem Verhalten zu befassen?

Die Spritzen-Therapie ist nur das Mittel zum Zweck, indem deren Wirkmechanismus ermöglicht, einmal nicht ständig die nächste orale Befriedung, den nächsten Zuckerschub im Kopf zu haben. Dadurch geht es auf einmal nicht mehr nur um den Kampf mit dem «Gluscht». Viele Betroffene sagen mir, sie seien zum ersten Mal aus diesem Teufelskreis befreit und empfänden dies als grosse Erleichterung. Adipöse bekommen durch diesen Wirkmechanismus die Chance, sich ernsthaft Gedanken zu machen über ihren Lebensstil, ihr Bewegungs- und Essverhalten. Betroffene können sich nun damit auseinandersetzen, welche Alternativen sonst noch vorhanden sind, um Emotionen zu verarbeiten. Statt zum Beispiel aufgrund von Frust oder Enttäuschung zu Chips zu greifen, könnte sich jemand einen Tee zubereiten, eine Handarbeit machen oder eine Runde an der frischen Luft drehen. Während der Therapie können Betroffene neue Gewohnheiten ausprobieren, etablieren und diesen neuen Lebensstil häufig auch über das Ende der medikamentösen Therapie hinaus langfristig beibehalten. Aufgrund dieser echten Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten eignet sich die Spritzen-Therapie sehr, um nachhaltig etwas verändern zu können.

Gila-Krustenechse

Was Echsen-Speichel mit Adipositas zu tun hat 

Der Ursprung der GLP1-Medikamente findet sich in der Wüste New Mexicos: Die nordamerikanische Gila-Krustenechse frisst nur ein einziges Mal im Jahr – dann aber richtig viel. Aufgrund der Zucker-Überladung und daraus resultierenden massiven Insulin-Ausschüttung müsste sie eigentlich daran sterben. Doch im Speichel der Krustenechse wurde zufälligerweise die Substanz Exendin-4 entdeckt. Diese wirkt im Körper wie das Darmhormon GLP-1 und bewirkt, dass die Echse ihr jährliches Fressen überlebt. Aus dieser Entdeckung wurden die GLP1-Medikamente entwickelt, welche heute bei Adipositas und Diabetes Typ 2 eingesetzt werden.

Für welche Personen ist die Spritzen-Therapie geeignet?

Zuerst einmal definieren die Krankenversicherer, bei wem sie die Kosten der Therapie in der Regel übernehmen: ab einem BMI von 30 oder ab einem BMI von 27 in Kombination mit einer bestehenden Begleit-Erkrankung.

Mehr zu den Bedingungen der Krankenkassen erfahren.

Die Spritze ist also ausdrücklich kein Lifestyle-Produkt, mit dem man ohne eigene Anstrengung Kilos verlieren kann – wie das in den Medien oft falsch dargestellt wird. Es ist eine medikamentöse Therapie für Adipöse und stark Übergewichtige mit hohem Risiko für gesundheitliche Probleme oder bereits bestehenden Begleit- oder Folge-Erkrankungen.

BMI Tabelle

Die durch die Massenmedien erzeugte Vorstellung, dank der Spritzen-Therapie mal eben ein paar Pfunde purzeln lassen zu können, ist also falsch?

Personen, die nur mal ein paar Kilos verlieren möchten, sind ganz klar nicht Zielgruppe dieser medikamentösen Therapie. Für diese sind regelmässiges Ausdauer- und Krafttraining, eine gesunde Ernährung und allenfalls begleitend eine psychologische Unterstützung in den meisten Fällen der passende Weg. Ich störe mich schon alleine an dem durch die Medien geisternden Begriff «Fettweg-Spritze». Denn das ist es ja ausdrücklich nicht. Adipositas ist eine chronische Krankheit mit klar definierten Gesundheitsrisiken – und kein Schönheitsmakel. Ich bin wirklich kein Fan davon, mit einer kurzen, hochdosierten medikamentösen Therapie eine Gewichtsabnahme zu erzwingen, ohne dass sich irgendetwas am Lebensstil verändert. Das kann ich auch ethisch-moralisch nicht vertreten.
 

"Es braucht die Bereitschaft, auf Signale des Körpers zu achten."
 

Welche Einstellung braucht es für diese Therapie-Form?

Am schlimmsten finde ich jene, welche die Bedingungen für eine Spritzen-Therapie erfüllen, aber das Gefühl haben, sich dank dieser Therapie keine Gedanken machen zu müssen. Das funktioniert nicht – und ist auch überhaupt nicht Sinn dieser Therapie. Ideal ist hingegen, wenn eine Person bereit ist, wirklich auf die Signale des Körpers zu achten. Sie sollte auch unter sozialem Druck Stärke zeigen wollen – in Momenten wie etwa beim grossen Familienfest oder Vereinsessen, wo gesagt wird, man solle sich jetzt nicht so anstellen und könne doch mal eine Ausnahme machen. Wenn zehn Leute um einen herum sagen, komm, nimm doch noch was, braucht es einen gewissen Mut zu sagen, nein, ich möchte etwas verändern und werde deshalb auch medikamentös behandelt. Es braucht also den Willen, sich diesem Thema anzunehmen, dafür bestimmte Regeln einzuhalten und diese auch gegen aussen offen zu kommunizieren. Das ist für mich eine ideale Voraussetzung, weil dort das Nachdenken angestupst wurde. Die Person muss verstehen, dass es für sie und ihre Gesundheit nicht gut ist, wenn sie so weitermacht wie bisher.

Verläuft die Gewichtsabnahme während der Therapie-Dauer stetig oder verändert sich das im Laufe der Zeit?

Bei den Rezeptoren kommt es mit der Zeit zu einer gewissen Gewöhnung. Wir sehen deshalb jeweils, dass in der Regel nach circa neun bis zwölf Monaten keine weitere deutliche Gewichtsreduktion erzwungen werden kann. In dieser Phase geht es dann primär darum, veränderte Gewohnheiten im Alltag zu festigen. Denn nur wenn Betroffene ihr gesünderes Verhalten langfristig durchziehen, ist das Halten des reduzierten Gewichts auch nach Ende der medikamentösen Therapie möglich.
 

Es braucht also klare Verhaltensänderungen, damit die Therapie nachhaltig erfolgreich sein kann?

Wer es innerhalb der Therapie-Dauer nicht schafft, seine Gewohnheiten zu verändern und im Alltag zu verankern, wird nach dem Ende der Spritzen-Therapie erneut Gewicht zunehmen. Finden keine langfristigen Verhaltensänderungen statt, kommt die chronische Erkrankung Adipositas nach Absetzen der medikamentösen Therapie wieder zum Vorschein und bereitet erneut Probleme. Das ist übrigens nicht nur bei der Spritzen-Therapie der Fall, sondern auch bei jeder anderen medizinischen Therapie-Form. Es braucht den Willen der Betroffenen, selbst aktiv zu werden und sich nicht einfach nur auf Medikamente oder chirurgische Eingriffe zu verlassen.

Gibt es einen wissenschaftlichen Konsens über die Dauer der Spritzen-Therapie?

In der Regel ist die Behandlung mit GLP1-Analoga auf drei Jahre ausgelegt. Doch nicht alle Betroffenen brauchen diese Zeitspanne – es gibt auch solche, welche die medikamentöse Unterstützung weniger lange benötigen. Im Idealfall führt der durch das Medikament ermöglichte temporäre Unterbruch des ständigen Essensdrangs dazu, dass Betroffene ihr verändertes Verhalten bis zum Ende der Therapie soweit etabliert haben, dass sie ihr reduziertes Gewicht und die gesündere Lebensweise auch ohne medikamentöse Unterstützung halten können.
 

Ist es in bestimmten Fällen sinnvoll, diese drei Jahre zu verlängern?

Von molekularer und biochemischer Seite her gesehen, ist der Wirkstoff zeitlich praktisch unbegrenzt einsetzbar. Es sind keine spezifischen Abhängigkeiten oder Langzeitschäden bekannt. Deshalb werden Medikamente aus dieser Substanzklasse auch gerne zur Behandlung von Typ-2 Diabetes eingesetzt. Man könnte die dreijährige Therapie zwar verlängern – in der Regel als Selbstzahler-Therapie. Ich würde jedoch erst einmal eine Pause machen, um zu schauen, wie es ohne die medikamentöse Unterstützung läuft. Man könnte dann für ein, zwei Monate neue Methoden ausprobieren wie zum Beispiel intermittierendes Fasten oder achtsames Essen – durchaus auch mit einer niedrig dosierten medikamentösen Unterstützung in Tabletten-Form, um die Wirkung nochmals zu potenzieren.

Welche Nebenwirkungen können bei der Spritzen-Therapie auftreten?

Man merkt schon, dass etwas anders ist als sonst. Womit man aufgrund der verlangsamten Magen-Darm-Entleerung sicher rechnen muss, ist ein Völle-Gefühl im Bauch sowie eine dadurch entstehende Übelkeit. Viele Patientinnen sagen, es fühle sich ähnlich an wie in der Schwangerschaft – immer ein Druck, stets etwas Übelkeit, doch zum Glück nie bis zu schwallartigem Erbrechen. Auch Durchfall, Bauch und abdominelle Schmerzen sind möglich. Auf längere Sicht kann durchaus auch eine Verstopfung entstehen. Diese Beschwerden lassen in der Regel nach einigen Wochen etwas nach.

Einige Patientinnen – typischerweise Frauen – entwickeln Kopfschmerzen, ein störendes Ziehen im Kopf. Diese Nebenwirkung ist dosisabhängig, bleibt aber bei manchen Patientinnen relativ lange bestehen. In einem solchen Fall würde man die Dosis reduzieren oder die Therapie für circa zwei Wochen unterbrechen. Dieser Unterbruch ändert nichts am Grundkonzept der Therapie. Aber man hat Zeit zu schauen, ob die Schmerzen wirklich aufgrund einer Nebenwirkung des Medikaments entstehen, oder vielleicht eine andere Erkrankung wie eine Nasen-Nebenhöhlen-Entzündung dahinter stehen könnte. Durch die am Anfang recht massive Gewichtsabnahme kann es zu Haarausfall kommen. Dieser entsteht aufgrund einer Reizung der Haarwurzeln, die von im Fett-Gewebe abgelagerten Schadstoffen ausgelöst wird. In der Regel ist das aber nur ein vorübergehendes Problem. Nach etwa vier bis sechs Monaten ist es meist vorbei und die Haare spriessen wieder. Haarverlust ist allerdings viel ausgeprägter bei Personen, die eine Magen-Bypass-Operation hatten.

Seltener sind Hautreaktionen an der Einstichstelle, Gallensteine, Erschöpfungssyndrom (Fatigue), Schwindel und Geschmacksstörungen. Sehr selten sind lebensbedrohliche Nebenwirkungen wie eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis). Das ist vor allem Thema bei Personen, die zuvor schon Probleme mit Leber oder Bauchspeicheldrüse hatten – etwa durch Alkohol. Doch auch bei völlig gesunden Bauchspeicheldrüsen kann es durch das Medikament zu einer Reizung kommen. Treten unerklärliche Bauchschmerzen auf, muss man deshalb immer reagieren. In einem solchen Fall würde man eine Therapie-Pause einlegen. Häufig ist zur Beobachtung auch ein Spitalaufenthalt sinnvoll, um zu sehen, ob es wirklich eine Reizung der Bauchspeicheldrüse ist, oder andere Gründe wie etwa Gallensteine die Schmerzen verursachen.

Warum kommt es zu diesen Nebenwirkungen?

Ein Grossteil der Nebenwirkungen erklärt sich aus der Verteilung der am Wirkmechanismus beteiligten Rezeptoren. Hier haben wir es also gleichzeitig mit Wirkung und Nebenwirkung zu tun.

Lassen sich Völle-Gefühl und Übelkeit lindern?

Durch das eigene Verhalten lassen sich die Nebenwirkungen soweit reduzieren, dass man mit ihnen leben kann. Alles, was gut ist für die Verdauung, lindert diese Beschwerden: Portionen-Grösse anpassen, Essen gut über den Tag verteilen, Trinkmenge erhöhen, in Bewegung bleiben. Und Sachen ausprobieren wie etwa fermentierte Nahrungsmittel, die sehr gut für die Magen-Darm-Flora sind und den Stuhlgang wieder regulieren können. Das ist natürlich auch wieder eine gewisse Umstellung, die Überwindung kosten kann – sich aber lohnt.

"Es gibt keine Autobahn, 
die auf direktem Weg zum Idealgewicht führt."
 

Haben Sie eine Schlüsselbotschaft für Betroffene, die sich auf diesen nicht immer linearen Weg begeben?

Der gewundene Weg ist der Schlüssel. Egal, welche Therapie-Form Sie wählen – es gibt keine Autobahn, die auf direktem Weg zum Idealgewicht führt. Es sind viele kleine Schritte, viele Abzweigungen, wo sich die betroffene Person jeweils überlegen muss, wie es weiter geht. Fragen wie etwa «Was mache ich mit meinem Leben?», «Was kann ich selber verändern?», «Was liegt vielleicht nicht in meiner Hand?», «Wie gehe ich damit um?» stellen sich immer wieder.

Es geht darum, sich auf Neues einzulassen, die eigene Wahrnehmung zu verändern. Ein gesünderes Ernährungsverhalten, ein neues Sättigungsgefühl, ein verändertes Körpergefühl dank mehr Bewegung und Achtsamkeit – da sollte man sich getrauen zu experimentieren. Ich freue mich am meisten, wenn mir jemand erzählt, eine Maltherapie angefangen, zu töpfern begonnen oder sich einer Walking-Gruppe angeschlossen zu haben. Denn es geht doch darum, dass sich jemand als handelndes Individuum wahrnimmt und sein Leben aktiv gestaltet. Es gilt, diesen gewundenen Weg zu beschreiten und sich Unterstützung zu holen – darin bestärke ich meine Patientinnen und Patienten immer wieder.

Häufige Fragen bezüglich Krankenkassen-Vorgaben bei GLP1-Medikamenten