Wie Kostendruck zum Medikamentenmangel beiträgt
Das Wichtigste in Kürze
- Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bestimmt in der Schweiz die Medikamentenpreise. Mehr
- Durch das hohe Kosten- und Lohnniveau der Schweiz sind die Preise für Medikamente höher als in unseren Nachbarländern. Mehr
- Wegen steigender Gesundheitskosten fordern Politik und Gesellschaft billigere Preise bei Medikamenten. Mehr
- Aufgrund des Kostendrucks verlagerten Pharmahersteller einen Grossteil der Produktion in Billiglohnländer – was eine grosse Abhängigkeit von wenigen Herstellern aus Übersee bedeutet. Mehr
- Der momentane Mangel an Medikamenten wurde durch den starken Druck auf die Medikamentenpreise mitverursacht. Mehr
- Wegen des Kostendrucks lohnt sich der kleine Schweizer Markt für Hersteller im patentabgelaufenen Bereich immer weniger. Einige Medikamente sind deshalb in der Schweiz bereits nicht mehr erhältlich. Mehr
- Um die Versorgung mit Medikamenten langfristig sicherzustellen, müssten Politik und Behörden umdenken und künftig Sicherheiten einkaufen. Mehr
Interview mit:
Guido Klaus, Leiter Public Affairs bei Zur Rose
Die Forderung nach günstigeren Medikamenten wird in Politik und Gesellschaft immer lauter. Im Interview erklärt Guido Klaus, Leiter Public Affairs bei Zur Rose, was der Druck auf die Medikamentenpreise mit dem aktuellen Engpass bei Medikamenten zu tun hat. Er zeigt zudem auf, welche Veränderungen es braucht, um die Versorgung mit Medikamenten längerfristig sicherzustellen.
Die Gesundheitskosten in westlichen Ländern steigen seit Jahren. In der Kritik stehen dabei vor allem die Medikamentenpreise. Gesellschaft und Politik fordern deshalb immer lauter Massnahmen, um diese Kosten zu senken – auch in der Schweiz.
Guido Klaus, warum sind Medikamente in der Schweiz teurer als in unseren Nachbarländern?
Auch andere Güter sind in der Schweiz teurer als im Ausland. Wir haben in der Schweiz ein deutlich höheres Kosten- und Lohnniveau. Bei Medikamenten kommt hinzu, dass regulatorische Hürden und Auflagen zu zusätzlichem Aufwand führen.
Wer bestimmt denn in der Schweiz, wie viel ein Medikament kostet?
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) definiert die Preise der Medikamente, die von der obligatorischen Grundversicherung übernommen werden. Auf der sogenannten Spezialitätenliste werden die Preise pro Medikament verbindlich angegeben. Das BAG ist gesetzlich verpflichtet, diese Preise regelmässig zu überprüfen.
Welche Kriterien spielen bei der Preisgestaltung eine Rolle?
Zwei Komponenten führen zum Preis eines Medikaments: Zum einen der Auslandspreisvergleich. Hier vergleicht das BAG, wie viel ein bestimmtes Medikament in anderen Ländern kostet. Dazu gibt es einen fix definierten Länderkorb, der zum Beispiel Deutschland, Österreich und Frankreich enthält. Von den Preisen, die ein Medikament in diesen Ländern kostet, wird ein Durchschnittswert gebildet. Dieser definiert zu 50 Prozent den Medikamentenpreis in der Schweiz. Die anderen 50 Prozent werden durch den therapeutischen Quervergleich bestimmt. Hierbei schaut das BAG die Schweizer Preise vergleichbarer Medikamente an. Ein Schmerzmittel, das in der Schweiz neu auf den Markt kommt, wird dann zum Beispiel mit ähnlichen Schmerzmitteln verglichen, die in der Schweiz schon verkauft werden. Hat man also beispielsweise einen Auslandspreisvergleich von 50 Franken und einen therapeutischen Quervergleich von 100, beträgt der Preis für das neue Medikament 75 Franken.
Der Druck auf die Preise nahm in den letzten Jahren deutlich zu. Welche Konsequenzen hat das?
Der Kostendruck ist so gross geworden, dass Hersteller immer mehr in Billiglohnländer auswichen – zuerst innerhalb Europas, später dann nach Asien. Um die Margen halten zu können, mussten insbesondere Hersteller von patentabgelaufenen Medikamenten in den letzten Jahren ihre Prozesse optimieren. Schliesslich bezogen sie nicht nur die benötigten Rohstoffe aus Asien, sondern liessen ihre Medikamente auch dort produzieren und verarbeiten. Das führte zu einer Konzentration auf wenige Produzenten. Für gewisse Wirkstoffe gibt es weltweit gerade noch einen einzelnen Produzenten – das ist höchst problematisch.
Was ist die Folge davon?
Durch diese Abhängigkeit ist die globale Medikamentenversorgung sehr anfällig geworden. Zu Engpässen kam es punktuell auch schon vor der Pandemie, doch diese verschlechterte die Situation massiv. Wenn etwa chinesische oder indische Produzenten nicht liefern, haben westliche Länder schnell ein Problem mit der Verfügbarkeit der betroffenen Medikamente.
Der starke Preisdruck hat also zum Medikamentenmangel beigetragen?
Wir sehen jetzt, dass diese Kostenpolitik ihren Preis hat: Sie geht zulasten der Versorgungssicherheit. Natürlich gibt es auch noch andere Gründe. Zum Interview mit Christian Henseler Doch der zunehmende Kostendruck der letzten Jahre ist klar mitverantwortlich, warum wir uns jetzt in einer Mangellage befinden – nicht nur in der Schweiz. Engpässe gibt es vor allem bei den am stärksten vom Preisdruck betroffenen patentabgelaufenen Medikamenten und Generika, beispielsweise bewährte Schmerzmittel, Antibiotika, fiebersenkende Arzneien, Hustensirup oder Krebs- und Rheumamedikamente.
Warum sind patentabgelaufene Medikamente und Generika besonders unter Druck?
Die Kosten neuer, innovativer Medikamente sind hoch, damit deren aufwändige Forschung und Entwicklung finanziert werden kann. Aus diesem Grund sind sie für maximal 20 Jahre durch ein Patent geschützt. Nach Ablauf des Patentschutzes können auch andere Hersteller Medikamente mit demselben Wirkstoff herstellen. Diese Nachahmer-Medikamente heissen Generika. Der Wettbewerb zwischen den einzelnen Generika-Herstellern führt zu einem enormen Preiskampf. Die Auslagerung von Rohstoffbezug und Produktion nach Asien war deshalb ein logischer Schritt. Doch dadurch sind diese Medikamente nun besonders von den Lieferengpässen betroffen.
Die Produktion wieder in die Schweiz oder nach Europa zurückzuholen, ist also aufgrund des Kostendrucks für Hersteller patentabgelaufener Medikamente schwierig?
Die Schweiz ist attraktiv für hochkomplexe, innovative Produkte mit Patentschutz, die schwierig herzustellen sind. Diese haben nach wie vor eine hohe Wertschöpfung. Doch bei patentabgelaufenen Medikamenten und Generika verdienen Hersteller aufgrund der übermässig starken Preisregulierung fast kein Geld mehr – oder machen sogar Verluste. Beim Schmerzmittel Dafalgan beispielsweise erhält der Hersteller gerade mal noch 5 Rappen pro Tablette.
Was bedeutet das für die Medikamentenversorgung der Schweiz?
Werden Medikamente immer billiger, ist es für Hersteller von patentabgelaufenen Medikamenten irgendwann nicht mehr interessant, diese anzubieten. Die Schweiz ist global gesehen ein so kleiner Markt, dass sie für Hersteller weniger attraktiv ist als etwa unsere grösseren Nachbarstaaten. Gewisse Medikamente könnten deshalb auf absehbare Zeit vom Schweizer Markt verschwinden – oder sind bereits verschwunden. Es darf nicht so weit kommen, dass immer mehr Medikamente aus Kostengründen in der Schweiz nicht mehr verkauft werden.
Wie könnte eine solche Entwicklung verhindert werden?
Neue, innovative Medikamente sind zwar hochwirksam, aber auch sehr teuer. Es wäre sinnvoll, die Dynamik zu verändern. Man könnte die hohen Preise innovativer Medikamente anfangs bezahlen, würde sie aber senken, sobald es eine vermehrte Nachfrage bei diesen Medikamenten gibt. Das könnte den Kostendruck im System verringern – und man müsste bei den patentabgelaufenen Medikamenten die Zitrone nicht dermassen auspressen.
Was könnte im patentabgelaufenen Bereich noch für Entspannung sorgen?
Statt einer Konzentration auf einzelne Produzenten in Übersee bräuchte es eine Verteilung auf mehrere Partner – am besten in verschiedenen Ländern. Hätte also etwa ein Hersteller nebst einem chinesischen Produktionsstandort auch noch eine Fabrik in Frankreich und eine in den USA, wäre er weniger abhängig von einem einzelnen Produzenten. Hersteller könnten zudem ihre Lagerkapazitäten bei wichtigen Medikamenten erhöhen. Beide Massnahmen wären ein Beitrag zur Versorgungssicherheit, wären aber mit höheren Kosten verbunden.
Wer sollte für diese Kosten aufkommen?
Es stellt sich die Frage, was der Schweiz Versorgungssicherheit wert ist. Bis anhin war es für die Preisfestsetzung des BAG nicht relevant, wo produziert wird, oder ob die Herstellerfirma zusätzliche Sicherheiten bieten kann. Um künftige Versorgungsengpässe zu vermeiden, könnte der Staat zum Beispiel Pharmahersteller verpflichten, wichtige Medikamente für sechs Monate einzulagern oder einen Nachweis verlangen, dass ein Teil der Produktion in Europa stattfindet. Der Staat müsste die Hersteller für solche Garantien entschädigen. Denn wären solche Massnahmen staatlich verordnet, müssten sie auch staatlich finanziert werden. In anderen Bereichen handhabt der Bund das bereits so – etwa bei garantierten Wasserreserven aufgrund der Strommangellage.
Die Schweiz sollte also auch bei Medikamenten in die Versorgungssicherheit investieren?
Behörden müssen umdenken und künftig Sicherheiten einkaufen. Wir sind nicht das einzige Land, in dem die Behörden Medikamentenpreise festlegen. Die Diskussion um die Senkung der Gesundheitskosten ist wichtig – das läuft in anderen Ländern ähnlich. Aber es ist zu kurzfristig gedacht, nur die Medikamentenpreise zu senken. Es hilft nicht, wenn ein Medikament mit einem billigen Preis auf der Liste steht, aber nicht erhältlich ist. Wenn kein Umdenken stattfindet, werden die Versorgungsschwierigkeiten in der Schweiz auch längerfristig bestehen bleiben.
«Die Schweiz sollte bei Medikamenten in die Versorgungssicherheit investieren.»
Was müsste im Hinblick auf die längerfristige Versorgungssicherheit noch getan werden?
Die Kriterien für die Preisfestlegung von Medikamenten müssten grundsätzlich überarbeitet werden. Diese Forderung ist nicht neu – und Zur Rose ist auch nicht die einzige, die das so sieht. Es gibt sogar klare Aufforderungen aus dem Parlament, dass das BAG die Kriterien zur Festlegung der Preise überarbeitet. Zudem braucht es ein umfassendes Konzept für die Medikamentenversorgung in der Schweiz, in dem auch Medizinal- und Laborprodukte berücksichtigt werden müssten. Denn auch hier müssten die Abhängigkeiten von Billiglohnländern überdacht und sicherere Alternativen geprüft werden.
Wäre eine verstärkte Vernetzung mit den Nachbarstaaten von Vorteil?
Eine engere Zusammenarbeit mit den europäischen Ländern zur Verbesserung der Versorgungssicherheit wäre sicherlich sinnvoll. Die Schweiz müsste wieder vermehrt mit zuverlässigen europäischen Partnern zusammenarbeiten, um sichere Lieferketten zu schaffen.
Wie lange werden uns Versorgungsschwierigkeiten in der Schweiz noch beschäftigen?
Es ist eine schwierige Situation, die sich nicht so schnell aufheben lässt. In den nächsten Jahren wird es bei bestimmten Medikamenten wohl immer mal wieder zu Engpässen kommen. Schnelle Patentlösungen gibt es nicht. Politische und regulatorische Massnahmen brauchen lange, bis sie ausgearbeitet, diskutiert und in Kraft gesetzt werden. Das BAG selbst könnte zwar relativ schnell Änderungen beschliessen, doch bis Industrie, Logistik und Hersteller diese Änderungen umgesetzt haben, braucht es Zeit. Umso wichtiger ist es, aus der jetzigen Situation Lehren zu ziehen, damit wir künftig nicht wieder in eine solch schwerwiegende Situation kommen wie im Moment. Zur Tagesordnung überzugehen, sobald sich die Situation wieder etwas entspannt, wäre fatal. Wir müssen jetzt konkrete Massnahmen diskutieren und ergreifen, um die Versorgungssicherheit auch langfristig sicherzustellen.
Was sind eigentlich Pflichtlager für Medikamente?
Die Schweiz lagert für Notsituationen wichtige Medikamente in Pflichtlagern bei Pharmaherstellern ein. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bestimmt, welche Medikamente in die Pflichtlager aufgenommen werden. Das sind vor allem essenzielle Medikamente wie zum Beispiel Antibiotika, starke Schmerzmedikamente, antivirale und fiebersenkende Arzneimittel, Insulin und Impfstoffe. Aufgrund der aktuellen Versorgungskrise sollen neu auch Medikamente für Epilepsie, Parkinson sowie psychische Krankheiten in die Pflichtlager aufgenommen werden.
Die Pharmahersteller sind verpflichtet, die vom BAG pro Medikament definierte Menge jederzeit vorrätig zu halten. Medikamente in Pflichtlagern werden regelmässig durch neue Ware ersetzt, damit keine Medikamente ablaufen und entsorgt werden müssen. Die ersetzte Ware kommt vor Ablaufdatum regulär in Umlauf.
Bei einem Versorgungsengpass ordnet das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) an, ob und wann Medikamente aus Pflichtlagern freigegeben werden. 2022 musste in 120 Fällen auf Pflichtlager-Bestände zugegriffen werden – 2018 kam das hingegen nur in 17 Fällen vor. Anfangs März 2023 gab das BWL weitere Antibiotika aus Pflichtlagern frei.
Schon gewusst?
Volksinitiative für mehr Versorgungssicherheit bei Medikamenten Mit der anfangs 2023 eingereichten Volksinitiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit» soll die Versorgungsicherheit mit wichtigen Arzneimitteln in der Schweiz künftig verbessert werden. Hinter der Initiative steht eine breite Allianz aus Pharmabranche, Ärzte-, Apotheker-, Drogisten und Labormedizinverbänden, Universitäten, Konsumentenorganisationen und weiteren Akteuren. Die Initiative fordert, dass statt der Kantone der Bund für die Versorgungssicherheit zuständig sein soll. Das führe zu einer besseren Kontrolle über die Verfügbarkeit von Medikamenten und ermögliche es, bei Engpässen effizienter handeln zu können. Ausserdem sollen die Schweizer Lagerkapazitäten für Medikamente vergrössert werden. Zusätzlich soll die Erforschung, Entwicklung und Produktion von Medikamenten und medizinischem Material in der Schweiz gestärkt werden. Pharmaunternehmen, die in der Schweiz produzieren, sollen vom Bund entschädigt werden, weil sie zur Versorgungssicherheit beitragen. Um Lieferketten abzusichern, soll zudem die Zusammenarbeit mit dem angrenzenden Ausland verstärkt werden.